Vorderasiatische Archäologie
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Emmy Noether-Projekt: Flucht – Migration – Interaktion

Flucht – Migration – Interaktion. Artefaktbezogene Diversität in altorientalischen Kontexten des 3. und 2. Jahrtausends v. Chr.

Projektleitung: Dr. Simone Mühl, M.A.


Projektmitarbeiter:

Frühbronzezeit: Manuela Heil, M.A. „Die bemalte Keramik aus Gird-I Shamlu im Kontext transregionaler Netzwerke des 3. Jahrtausends v. Chr.“

Magnetik: Marion Scheiblecker, M.A. „Geophysikalische Prospektion in der Shahrizor-Ebene. Eine Analyse zur Raumnutzung in ländlichen Siedlungen und urbanen Einzugsbereichen altorientalischer Siedlungssysteme“

Technische Zeichnung: Eva Schmalenberger, MA

Kooperationspartner vor Ort:

Directorate of Antiquities Sulaymaniyah
General Directorate of Antiquities Erbil

Zusammenfassung

Das Projekt „Flucht - Migration - Interaktion. Artefaktbezogene Diversität in altorientalischen Kontexten des 2. und 3. Jahrtausends v. Chr.“ untersucht in einem multidisziplinären Forschungsverband Fragen der kulturellen Beeinflussung, des materiellen Wandels und der Diversität altorientalischer Kulturen. Der Fokus wird dabei auf Modelle von Flüchtlings- und Migrationsbewegungen gelegt, die durch einen in archäologischen Kontexten festgestellten abrupten Wandel materieller Hinterlassenschaften (u.a. anhand von Keramik) erklärt werden. An einem konkreten Beispiel, dem antiken Siedlungshügel Gird-i Shamlu in der Shahrizor-Ebene an der irakisch-iranischen Grenze in Südkurdistan, wird durch modernste archäologische Untersuchungen eine möglichen Flüchtlingsbewegung, die vor etwa 3500 Jahren in der Region stattfand, erforscht. Angegliederte Landschaftsuntersuchungen durch archäomagnetische Geländeprospektionen ermöglichen, das Phänomen im Großraum an gleichzeitigen Siedlungen zu erfassen.


Die Grabungen am Gird-i Shamlu

Gird-i Shamlu (Gird – kurd.: Hügel) liegt an einem gleichnamigen Wadi inmitten der Shahrizor-Ebene etwa 45 km südöstlich von Sulaymaniyah in irakisch Kurdistan unweit der irakisch-iranischen Grenze. https://www.shamlu.net/

 

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Der Hügel wurde ab dem beginnenden 3. Jahrtausend v. Chr. besiedelt. Im beginnenden 2. Jahrtausend v. Chr. zeugen archäologische Reste von der Anbindung an die materielle Kultur Mesopotamiens.

Drehscheibengefertigte Keramik und Bestattungen unterscheiden sich kaum von Funden und Befunden wie man sie aus dem Hamrin-Gebiet oder auch dem altbabylonischen Südmesopotamien kennt. Dann erfolgt jedoch ein Bruch: In der Keramiksequenz, aber auch an anderen Funden wie der Lithik, zeichnen sich signifikante Veränderungen ab. Die Keramik wird nun von Hand gefertigt und nicht mehr wie zuvor auf der Drehscheibe. Sie ist mit markanten Ritzverzierungen versehen und offenbart ein sehr eingeschränktes Formengut. Flaschen und Schalen aus gebranntem Ton fehlen gänzlich. Vielleicht wurden an ihrer Stelle Behältnisse aus Holz oder anderen vergänglichen Stoffen wie Leder verwendet.

 

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Da diese Veränderungen bislang nicht aus einer regionalen Entwicklung heraus erklärt werden können, wird angenommen, dass sie mit der Ankunft einer Bevölkerungsgruppe, vermutlich aus einem der Täler im westlichen Zagros-Gebiet, zu assoziieren ist. Denn in der nächsten Umgebung der Shahrizor-Ebene und im mesopotamischen Großraum wurde dieses Phänomen noch nicht beobachtet, wohl aber gibt es entfernte Bezüge tiefer im iranischen Hochland. Technologisch bestehen hierzu jedoch Unterschiede, auch scheinen die Funde aus Shamlu älter zu datieren. Somit wäre ein genauer Ursprung der neuen Produktionsweisen in der Shahrizor-Ebene nach wie vor noch ungeklärt.

 

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Aus regionalen und mesopotamischen Schriftquellen des ausgehenden 18. Jahrhunderts v. Chr. sind Bevölkerungsverschiebungen im gesamten Großraum jener Zeit geschildert, die teils mit kriegerischen Ereignissen in Verbindung stehen. Es ist von Eindringlingen aus dem westlichen Zagrosraum die Rede und damit einhergehenden Flüchtlingsbewegungen in der Region. Mit der Zerstörung eines regionalen Statthalterpalastes in Shusharra, dem modernen Fundort Shemshara in der nicht weit entfernten Rania-Ebene, brechen die historischen Überlieferungen der Region ab und hüllen die folgenden Jahrhunderte in ein Dunkel.

C14-Daten aus der jüngsten Schicht, die mit dieser Keramik assoziiert ist, geben eine Datierung in das ausgehende 17. Jahrhundert v. Chr. Weitere Grabungen sollen helfen, Informationen über die Wohnbauten, die Wirtschaftsweise, das Sozialgefüge und auch Konsumgewohnheiten der möglicherweise neuen Bewohner des Gird-i Shamlu zu sammeln. Erste Befunde erbrachten Architekturreste, die, die ursprünglich aufgebrachte These, es handle sich um eine nomadische Bevölkerung, die Tiere in der Siedlung hielt und kaum Baureste hinterließ, wiederlegen lassen. Es wurden massive Lehmziegelhäuser gebaut, deren Fußböden mit Schilfmatten ausgelegt waren, die auch in den Dachkonstruktionen verbaut wurden, und das Umland wurde intensiv durch Ackerbau bewirtschaftet. Unter den angebauten Getreidearten, mehrheitlich Emmer, Weizen, Einkorn und Gerste befinden sich auch ungewöhnliche Sorten wie die Rispenhirse (Panicum miliaceum). Als Fleischlieferanten dienten Schaf, Ziege und Schwein.


Um den Wandel am Fundort ansprechen und greifbar machen zu können, wird auch die materielle Kultur vorangehender Epochen am Fundort untersucht. Dazu dienen Grabungen in der Unterstadt, wo großflächige Areale Siedlungsreste des beginnenden 3. Jahrtausends v. Chr. offenbaren. Diese frühe Siedlung wurde durch Brandereignisse zweimal zerstört und gewährt dadurch in Momentaufnahmen Einblicke in die Lebensweise am Fundort. So konnten während der Grabungen im Frühjahr 2015 und Herbst 2016 Vorratsräume und auch eine Werkstatt zur Herstellung von Feuersteingeräten dokumentiert werden. Kleinere Objekte wie Terrakottamodelle oder Siegel zeugen von der Kunstfertigkeit, die Teil des Alltagslebens am Gird-i Shamlu vor 5000 Jahren war.

 

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Literatur:

Mühl, S./Faßbinder, J. 2015. Archaeological geophysics in the Shahrizor plain (Iraqi Kurdistan). Archaeologia Polona 53, 481–485.

Fassbinder, J./Hofmann, I./Mühl, S. (2015), “Archäologisch-geophysikalische Prospektion in Kurdistan“, Denkmalpflege Informationen 160, 71-73.

Mühl, S. (2013), Siedlungsgeschichte im mittleren Osttigrisgebiet vom Neolithikum bis in die neuassyrische Zeit, ADOG 28, Wiesbaden.

Altaweel, M./Marsh, A./Mühl, S./Nieuwenhuyse, O./Radner, K./Rasheed, K./Saber, A.S. (2012), “New Investigations in the Environment, History, and Archaeology of the Iraqi Hilly Flanks: Shahrizor Survey Project 2009-2011”, Iraq 74, 1-35.

Mühl, S. (2012), “Human Landscape - Site (Trans-) Formation in the Transtigris Area”, in: R. Hofmann, F.-K. Moetz, J. Müller (Hrsg.), Tells. Social and Environmental Space, UPA 207, Bonn, 79-92.

Literatur online unter: https://lmu-munich.academia.edu/SimoneMühl

Kontakt:

Dr. Simone Mühl, M.A.
Institut für Vorderasiatische Archäologie
Ludwig-Maximilians-Universität München
Geschwister-Scholl-Platz 1
80539 München

Email: Simone.Muehl@vaa.fak12.uni-muenchen.de